„Ein freier Raum der Poesie sollte ,Paradies‘ heißen“
Interview mit Gerhard Stäbler und Kunsu Shim,
Kuratoren von GOOD-BYE PARADISE?
Von Cihan Ataş
Veröffentlicht am 5. Februar 2023 auf mediascope.tv
Link zum Originalbeitrag in türkischer Sprache: https://medyascope.tv/2023/02/05/good-bye-paradise-kuratorlerinden-gerhard-stabler-ile-soylesi-ozgur-bir-siir-alani-cennet-olarak-adlandirilmalidir/
Fotos: Sena Nur Taştekne © ARTER 2023
In Ihrer Performance verbinden Sie Ihre Kunst mit den Elementen des Raumes, in denen sie geschaffen wird. Seit wann denken Sie, dass Kunst nicht unabhängig vom Raum ist? Und wie setzen Sie in diesem Zusammenhang die Räume von ARTER mit „Good-bye Paradise“ in Beziehung?
Kunst, vor allem Musik, ist immer mit Raum und Zeit verbunden. Es gibt nur wenige Ausnahmen, beispielsweise Musik zum Lesen, bei der der imaginäre Klang im Kopf entsteht – die damit eigentlich auch etwas mit Raum (dem Kopf) und der Zeit zu tun hat, denn auch hier muss sich die Musik in der Zeit entfalten. Bei Aufführungen von Musik muss aber der Raum und der Verlauf in der Zeit, also die Choreografie eines Konzertes genauestens in Betracht gezogen werden. Für uns sind dafür Kunstmuseen besonders geeignet, weil sie die Möglichkeit bieten, alle Sinne auf vielfältige Weise einzubeziehen und es außerdem erlauben, bestimmte Räume in Bezug auf Musik auszuwählen, die Verbindungen zwischen dem Hören, Sehen, Fühlen, manchmal auch dem Riechen möglich machen.
Die Verknüpfung von Musik mit einem bestimmten Raum ist aber nicht Grundbedingung unserer Arbeit. Ein Raum, sei es ein Konzertraum, Ausstellungsraum oder ein Park et cetera, ist immer da. Dort kann diese oder jene Komposition aufgeführt werden. Eine Komposition, sagen wir „4:33“ von John Cage, kann auf einer Straße in New York aufgeführt werden, aber auch im Museum ARTER. Eine musikalische Arbeit ist also im Grunde genommen frei von einem bestimmten Raum. Wir beide waren von 2000 bis 2010 zehn Jahre lang Composer-in-Residence des Lehmbruck Museums in Duisburg, Deutschland. Während dieser Zeit haben wir zahlreiche Projekte in diesem Museum realisiert. Da es in erster Linie ein Museum für zeitgenössische Skulpturen ist, die im Raum exponiert sind, gab es verschiedene Möglichkeiten, mit dem Ausstellungsraum zu spielen, das heißt mit der Akustik des Raumes, mit den Gegenständen inklusive den ausgestellten Objekten darin, mit den architektonischen Besonderheiten. In der Tat gibt es aber auch Arbeiten von uns, die nur an einem bestimmten Ort realisiert werden können und sollen.
Wenn wir zu einem neuen Spielort eingeladen sind, um ein Projekt zu realisieren, wie hier im ARTER, schauen wir uns die Besonderheiten der Räume an, die meist einen voneinander unterschiedlichen Charakter besitzen. Danach fangen wir an, ein Programm zu überlegen. Für „Good-bye Paradise“ haben wir vier Räume ausgewählt: das Auditorium, das Karbon, verschiedene Foyers und die Galerie 2. Im Auditorium sind hauptsächlich „musikalische“ Werke zu hören, bei denen der Akzent auf das Hören gesetzt ist, im Karbon sind vorwiegend performative Stücke zu erleben, die alle Sinne beanspruchen, in den Foyers wird das Publikum selbst aktiv und kann in den Klang des gesamten Hauses hineinhören und in Galerie 2 werden die Performances mit ausgestellten Objekten verknüpft. Zum Ausgang schließlich wird dem Publikum eine Musik zum Lesen des Fluxuskünstlers Nam June Paik als kleines Geschenk mit nach Hause gegeben.
Wie kam es zu der Idee, eine Performance rund um den Begriff „Spiel“ zu entwickeln? Wie befreit man das Konzept des „Spiels“ aus der reinen Unterhaltung?
Im letzten Frühjahr 2022 hatten wir die Möglichkeit, die Ausstellung „This Play“ zu besuchen. Wir waren von dieser und auch von den anderen parallel laufenden ARTER-Ausstellungen sehr begeistert. Denn wir fühlen uns der „Tradition“ von Fluxus sehr nahe. Es waren Künstler ausgestellt, die überlegten, was „Material“ ist, und vor allem, wie man spielerisch damit umgeht. Giorgio Agamben schreibt dazu: „Die Kinder verwandeln, wenn sie mit irgendwelchem Gerümpel spielen, das ihnen unter die Finger gekommen ist, in Spielzeug auch, was der Sphäre der Wirtschaft, des Kriegs, des Rechts und der anderen Aktivitäten angehört, die wir als ernsthaft zu betrachten gewohnt sind. Ein Auto, eine Schusswaffe, ein juristischer Vertrag verwandeln sich mit einem Schlag in ein Spielzeug. (…) Und dies bedeutet nicht das Fehlen von Sorgfalt, sondern eine neue Dimension des Gebrauchs, die der Menschheit von Kindern und Philosophen geliefert wird.“
Ein Material, ein Ding ist in unserer heutigen hyper-materialisierten Welt für Menschen immer funktional und mit ihnen „materiell“ verbunden, das heißt, der Wert ist heute in erster Linie von Besitzbarkeit und Zweckmäßigkeit bestimmt. Nehmen wir eine Keramikschale als einen Gegenstand, der für uns von Nutzen ist und mit soundso viel Lira bewertet wird. Dabei vergessen wir, dass die Dinge an sich frei davon sind, selbst wenn sie „künstlerisch“ bearbeitet bzw. ausgeschmückt sind. Eine Schale ist also von sich aus nur ein Ding mit einer runden Form und einem leeren Innenraum. Sie ist an sich wertlos, da sie ein vergängliches Ding ist, zugleich aber auch wertvoll, da sie sich als einziges und einmaliges in diesem Raum und dieser Zeit befindet. „Play“ im Sinne von Agamben ist ein spielerischer Umgang mit Dingen ohne Wertvorstellung, vergleichbar damit, wie ein Kind mit einem Gegenstand umgeht. Es gibt keinen Zweck des Spielens, sondern es gibt nur „Spielen“. Dagegen ist Entertainment immer an einen Zweck gebunden. Denn es ist darauf ausgerichtet, den angeblich Spielenden auf etwas hinzulenken, nämlich ihn belustigend von der Realität abzulenken oder auf eine vom „Spiel“ intendierte andere Realität (z.B. eine Phantasiewelt, eine martialische Gesellschaft, eine nach bestimmten von „höheren“ Mächten designte zukünftige Gesellschaft) umzupolen. Von Anfang an richtet sich das Entertainment an Massen und definiert damit im Allgemeinen einen Massengeschmack, egal ob er im Sinne der Massen ist. Das Ziel des Entertainments ist es, alles zum Spektakel zu machen. Denn alles soll „sichtbar“ werden. Beim Entertainment gibt es kein Geheimnis der Dinge mehr. Alles ist grell belichtet und zum Konsumieren feilgeboten. Beim „Spiel“ („Play“) gibt es aber nur die Spielenden und die Dinge. Man gesagt, bei einem guten Spiel würden sich nicht nur die Spielenden vergessen, sondern auch die Dinge selbst auflösen. Am Ende bleibt ein erfüllter leerer Raum.
Wie haben Sie das Hezarfen Ensemble kennengelernt? Welche Rolle spielt sie in dieser Aufführung, wofür steht ihr Beitrag?
Seit längerer Zeit war uns der Name des Hezarfen Ensembles als eines der namhaftesten Ensembles in der Türkei geläufig, aber wir hatten keine Chance, es zu hören. Beim letzten Besuch 2022 in Istanbul haben wir schließlich den Bratschisten und künstlerischen Leiter des Ensembles, Ulrich Mertin, kennengelernt. Als wir unseren Wunsch nach einer Zusammenarbeit äußerten, war er sehr begeistert. Inzwischen haben wir aus den Proben einige Erfahrungen mit dem Ensemble gemacht und freuen uns sehr, mit ihm zusammenarbeiten zu können. Denn Hezarfen ist eine versierte Gruppe von professionellen Musikern, die sicherlich im Bereich zeitgenössischer Musik zur Weltklasse gehören und dabei immer offen für die Erweiterung ihrer musikalisch performativen Erfahrungen sind. Das vierteilige ARTER-Programm können wir nicht nur als Komponisten, sondern auch als mitwirkende Performancekünstler zusammen mit dem Ensemble gestalten, was uns sehr beglückt.
Wie definieren Sie das „Paradies“ – warum sollte es gerettet werden? Wie trägt Ihre Kunst zum Ziel der Rettung des Paradieses bei?
Meist versteht man unter „Paradies“ etwas, was mit Religion verbunden ist. Wir aber benutzen den Begriff „Paradise“ als etwas, das gerade frei von religiösen Dogmen oder irgendwelchen ideologischen Maximen ist. „Ein freier Raum der Poesie“ sollte „Paradies“ genannt werden. Die Poesie ist nichts anderes als ein Raum, der seine Zeit erzählt. Ohne sie ist er nicht beseelt und erzählt nichts. Ohne sie ist der Raum mit gesellschaftlichen Normen, vorgefertigten Informationen, Regeln, Gesetzen, staatlichen Maßnahmen, Verordnungen et cetera gefüllt und erstickt. Aber der Raum und die Zeit sind an sich leer, sollten leer sein, damit unser gelebtes Leben sie füllen kann. Ein Raum ist ein Körper und die Zeit (mit unserem Leben) ist seine Seele. Paradies ist eine erlebte Zeit in einem belebten Raum.
Welche Emotionen möchten Sie bei den Teilnehmenden Ihre Performance wecken? Welche Art der Erfahrung dürfen sie erwarten?
Natürlich wissen wir nicht, in welchem Gemütszustand sich das Publikum befindet. Wir möchten sein Gefühl auch nicht in eine bestimmte Richtung lenken. Jedoch hoffen wir, dass ihm dieses Projekt die Möglichkeit bietet, Dingen „neu“ und „offen“ zu begegnen, anstatt sie mit vorgefertigten Informationen – wie „gut“ oder „schlecht“, „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ – zu beurteilen.
Im Programm gibt es auch Werke, bei denen sich die Konzertteilnehmer auf verschiedene Weise aktiv beteiligen, indem sie mitwirken und sogar – nach unserer kurzen Anleitung – selbst „komponieren“, auch wenn sie dies vielleicht noch nie in ihrem ganzen Leben taten. Die Zuhörer werden Klangvorstellungen in Worten oder Grafiken notieren, die wir dann während des PerformanceKonzertes realisieren.