Richtungslosigkeit oder Denken der unbegrenzten Gegenwart
- ein Konzept für die Kunst
1.
„Richtungen vertreten, / Handeln, / Zu- und abreisen / ist das Zeichen einer Welt" - so gedichtet bei Gottfried Benn. Unsere Gesellschaft richtet sich zielstrebig nach „dort", nach „morgen". Bejaht man ein richtungsbewusstes Leben, betrachtet man jemand ohne Linie, ohne Orientierung und Ziel oft als Versager. In eine Richtung zu gehen, vollzieht sich durch eine Bewegung und diese erzeugt andere Bewegungen. Alles in diesem Prozess sieht lebendig und dynamisch aus, und dies ist nicht nur scheinbar. Orientierungen braucht man tatsächlich, um in einer Gesellschaft mit anderen Mitgliedern zusammenzuleben, denn Orientierungen geben ihr System und Ordnung.
Manchmal aber auf dem Weg zum „dort" verschwindet etwas. Es ist „dazwischen", dort wo etwas vergessen wird. Das, was zwischen „hier und dort" und zwischen „heute und morgen" ist, wird auf Noch-Nicht-Gekommenes" verschoben.
Das Ziel erwartet, den Weg nicht zu verlassen. Erwartung will keine anderen Wege. Der Weg zum „dort" und „morgen" ist fertig, ehe wir ihn gelebt haben. Der Weg schließt „anderes" aus. „Anders" sind unzählige Möglichkeiten, die im Zeitraum „dazwischen" existieren. Indem wir uns auf ein Ziel konzentrieren, vergessen wir andere Möglichkeiten. Andere Wege nehmen wir nicht wahr, sind unfühlbar geworden, weil wir einer zu starken Richtungsgeraden in uns folgen.
Gilles Deleuze, französischer Philosoph, hat in seiner Deutung von „Welten als Existenz des Möglichen" dieses Mögliche als „ästhetische Kategorie, die mit Empfindungen zu tun hat, verstanden. Richard Rorty hat die „Fortführung" der Sinnerzeugung betont und nicht die endgültige „Vervollständigung". Und Lao-tse die „Unsagbarkeit des Taos".
Wenn ich z. B. sage, „ich gehe nach New York", oder „morgen treffe ich ihn", „weiß" ich eigentlich nicht, ob ich wirklich nach New York gehen und ihn morgen treffen kann. Hier geht es nicht um den Wahrheitsgehalt des Satzes, sondern um das „Besetzt-Werden" des Bewusstseins. „Richtungslosigkeit" steht dieser Besetztheit gegenüber.
„Besetzt" können wir uns nennen, wenn wir „eine leise tönende innere Melodie in uns" verpassen, indem wir vom lauten Trommelmarsch von außen hin- und hergerissen sind. Wir werden „besetzt und voll" in der Weise, dass wir nicht „wir selbst" sind. Decken wir nicht unbewusst unsere Ohren mit den Händen zu, wenn uns bei der Durchfahrt eines Tunnels plötzlich lautes Geräusch bedrängt?
Richtungslosigkeit bedeutet nicht, alles aufzugeben, sich abzuschotten, alle Türen zu schließen oder im Exil zu leben, im Niemandsland. New York zu erreichen ist wichtig. Nichts verblüfft uns mehr, wird uns weniger vorstellbar, vielleicht sogar tragisch vorkommen, als die Situation, dass unser Leben nicht auf 60, 70 oder 80 Jahren begrenzt wäre, sondern unendlich dauern würde. Die „Begrenztheit" unseres Lebens ermöglicht uns auch dessen Sinn. Unser Leben bekommt ihre Gestalt und ihr Gewicht gerade durch ihre Begrenztheit.
2.
Die serbische Künstlerin Marina Abramovic hat diese Richtungslosigkeit als ein Warten ohne Erwartung vermittelt, als sie ihre Performance „waiting for an idea" durchgeführt hat. Es ist ein Warten, mit dem man sich zu nichts neigt und noch von nichts besetzt ist.
Ein solches Moment erlebte der koreanische Dichter Kim Chi-Ha - beschrieben in seinem Buch „Nicht zusammenbleiben, gelebt wird nur geschieden" - beim Fahren über den Fluss Han in Seoul ein punktuelles Tönen, als Gleichklang, als kurzes Atmen des Sich-öffnens, das alles in dem Augenblick geschieht, wenn man wirklich wahrnimmt, wo man ist. Ein kurzer Moment, in dem sich „die leise tönende innere Melodie" in eine gelbe Löwenzahnblüte wandelt, in einen zufällig auf dem Tisch liegenden Füllhalter, in lautlos sich entfaltende Teeblätter in der Tasse, in das Gefühl zu lieben und geliebt zu werden, in eine Welt, in der alles auf einmal sichtbar wird und gleichzeitig wieder lautlos verhüllt, in ein unendliches Atmen...
Dabei erkennt man, was Friedrich Nietzsche einmal als Wesen beschrieben hat, das „im ganzen geworden und wandelbar und (...) nichts Festes und Beharrendes ist". Gilles Deleuze hatte dieses als ein Moment verstanden, das die „Leere und Lücke im Leben" als Positivum zulässt. Und gerade in diesem Moment begegnen wir einer Möglichkeit für Veränderung, die erst nach einem richtungslosen, erwartungslosen Warten aufblüht. Warten wie dieses könnte eine Form unbegrenzter Gegenwart ausmachen für ein Leben als Wiederholung von hier und jetzt. Die Zeit richtet sich nicht, sondern ist kontinuierlich „da".
Robert Bresson und Chantal Akermann haben nach meiner Ansicht im Film das Konzept beständiger Wiederholung von Gegenwart realisiert. Verzichtet wird zum großen Teil auf Rückblenden oder zukunftsbezogene Andeutungen. Ihre Filme zeigen eigentlich ziemlich ereignislose Welten, jedoch getragen von innerer Spannung. Nicht Autorennen oder Akrobatik machen ihre Filme spannungsgeladen, sondern die Art und Weise, wie sie durch ihre schlichte, direkte und klare Aufforderung zum „Sehen" zur Begegnung mit der Gegenwart einladen. Richtungslosigkeit, Warten ohne Erwartung sind Voraussetzungen für eine unmittelbare, aber auch anregende Begegnung mit der Gegenwart.
In ihrem Roman „Leuchtturm" beschreibt Virginia Woolf den Moment der Wahrnehmung, indem ihr etwas begegnet und sie sich dadurch innerlich verändert fühlt. „So nahmen wir ein kleines Boot, dachte sie, und begann, sich eine Abenteuergeschichte zu erzählen, wie sie sich von einem sinkenden Schiff rettete. Doch als jetzt das Meer durch ihre Finger flutete, ein Zweig aus Seetang hinter ihnen verschwand, hatte sie keine Lust, sich ernsthaft eine Geschichte zu erzählen; es war das Gefühl des Abenteuers und des Entrinnens, wonach ihr der Sinn stand, denn sie dachte darüber nach, während das Boot weitersegelte, wie der Zorn ihres Vaters über die Himmelsrichtungen James' störrisches Beharren auf dem Pakt und ihre eigene Verängstigung sich sämtlich aufgelöst hatten, sämtlich vergangen waren, sämtlich davon geströmt waren. Was kam nun als nächstes? Worauf hielten sie zu? Aus ihrer Hand, die eiskalt und tief ins Meer gestreckt war, sprudelte eine Fontäne der Freude empor, über die Veränderung, über das Entrinnen, über das Abenteuer (dass sie am Leben war, dass sie da war)".
Die amerikanische Malerin Agnes Martin kannte auch diese „Fontäne der Freude" und spricht von „Freude ist Wahrnehmung". Deleuze versteht die Kunst als die „Erfindung der Wahrnehmung".
Wahrgenommen wird nur die Gegenwart (zur Vergangenheit und Zukunft stehen wir in anderem Bezug). Ein Bild ist, insofern es angeschaut wird. Einem Ton muss man zuhören. Jedes Bild, jeder Ton ist eine Gegenwart, hat keine Vergangenheit, keine Zukunft. Was nicht ist, können wir nicht wahrnehmen. Die Frage ist aber, inwieweit wir wirklich die Gegenwart inmitten der unaufhörlichen Wandlungen wahrnehmen können.
Meistens sind wir zwar „hier", aber nicht wirklich „da". Wir schauen nach, wir sehen vor, wir erwarten, wir träumen. Fantasien schaffen Möglichkeiten für andere Zeiträume. Wenn sie aber keine neue Realitäten, neue Wahrnehmungen bringen, sondern nur die Gegenwart negieren, haben sie zur Folge, dass weder Wirklichkeit noch Fantasien existieren. Dann wäre die Gegenwart nur eine Dehnung aus der nicht existenten Vergangenheit und die Zukunft nur ein monoton hallendes, schwirrendes Geräusch im Kopf. Darin gäbe es kein Leben.
Die Klänge in den späten Werken von John Cage ereignen sich, als blieben sie auf Dauer in der Gegenwart. Die Töne seiner Musik sind sich so ähnlich und doch von einander verschieden wie Steinchen am Ufer eines Flusses oder Sandkörner am Strand. Und so verschwinden sie auch. Zuerst finden wir uns in einem vernebelten Raum, dort weilend spüren wir aber, dass diese Musik Töne des Lichts erzeugt, wie Sterne, die still am Nachthimmel flimmern - mitten in einem Raum des Schaffens.
„Es ist ein Raum, wo Stimme, Seele, freie Luft ganz sie selber sind und ihren Ort mit sich führen" (nach Joseph Joubert).
3.
„Frage nicht wie, wenn Du Seoul erreichen kannst" heißt ein koreanisches Sprichwort. Zielstrebigkeit, Orientierungsbewusstsein sind darin spürbar. Doch nur dann, wenn wir uns auf „Seoul" konzentrieren. Wenn uns aber nicht die Frage nach „Seoul" ist, sondern das „wie" beschäftigt, erreichen wir ein neues Denken der unbegrenzten Gegenwart, bevor wir irgendein „dort" erreicht haben.
1997, Kunsu Shim (Übersetzung aus Koreanischen: Cho Wonkyu)