Kunsu Shim sucht die Wahrheit im Ton

Der Himmel ist ein guter Ort, um über Musik zu reden. Kunsu Shim schlug das so benannte Café im schweizerischen Baden vor, und die Kipferli sind tatsächlich ausgezeichnet. Das forum claque hatte den koreanischen Komponisten, der seit 12 Jahren in Deutschland lebt, zusammen mit vier weiteren Komponisten der Wandelweiser-Gruppe im Oktober zu den Musikwerktagen eingeladen. Eine ruhige Woche mit stillen Uraufführungen und Kurzperformances, wie Shims chamber music. Für diese hatte Shim in dem langgestreckten Kellergewölbe, das dem forum claque als Konzertsaal dient, in der Nähe einer zur reißenden Brigach leicht geöffneten Hintertür platzgenommen. Wenige Minuten später erhob sich Shim und beendete das Stück. chamber music fordert in der Partitur den Performer auf, die akustischen Eigenschaften eines Raumes zu verändern. Nachdem zunächst das unaufdringliche Flussrauschen den Raum erfüllt hat, tritt mit dem Schließen der Tür Stille ein, eine Stille, die in den Ohren dröhnt und nach und nach die Klangqualitäten des Raumes selbst preiszugeben scheint. Der 40-jährige Shim spricht im "Himmel" mit ruhigen Worten über seine Musik, aber er vermeidet geschickt, sie zu deuten. Er erzählt davon, wie Musiker beim Spielen hören. Traditionellerweise hat der Instrumentalist eine Vorstellung von dem Ton, den er spielen will, und versucht dann, diese Vorstellung so gut wie möglich umzusetzen. Er gestaltet den Ton, indem er ihn mit seiner Vorstellung vergleicht und immer wieder korrigiert. Shims Interesse gilt jedoch der Ton-Erzeugung. Seine Partituren beschreiben, wie die Töne hervorgebracht werden sollen, weniger das Resultat. So bleiben die Musiker neugierig auf das, was sie im Moment der Aufführung hören.

„Es geht mir darum, Wahrnehmungen zu schaffen, wobei ´Wahrnehmung´ nicht die Wiederholung von Bekanntem ist." Implizit spricht Shim von der Wahrheit seiner Arbeit, wenn er sich zur Lüge in der Musik äußert: Oft täusche Musik vor, etwa heiter oder traurig zu sein. Dabei sei Brahms´ IV durchaus nicht selbst tragisch, „da gibt es nicht wirklich Mord und Totschlag". Natürlich wehrt sich Shim nicht gegen die Emotion, die durch Musik, auch seine Musik, erregt wird. Aber diese Emotion ist nicht Gegenstand seines Komponierens. Kunsu Shim komponiert Musik, nicht Gefühle. Dies gilt auch für sein rund einstündiges Werk like watching rings extended in water this time of life für Klavier, zehnköpfiges Ensemble und Tonband, das das Kammerensemble Neue Musik heute um 21 Uhr im Hamburger Bahnhof zur Uraufführung bringen wird. Die Akademie der Künste ermöglichte mit einem Stipendium für Kunsu Shim das Konzert, die Uraufführung eines zweiten Stipendiaten, Andrew Digby, wird im Januar folgen. Shims Werk gehört zu einer 1991 begonnenen Reihe von Kompositionen, in denen alle Ereignisse die gleiche Dauer haben. Hier folgen 365 schwebend dissonante Akkorde im Abstand von zehn Sekunden aufeinander, wobei die Instrumente in unterschiedlicher Kombination zur gleichen Zeit einsetzen, ihren jeweiligen Ton aber verschieden lang aushalten. Das Ensemble spielt „extrem leise" oder „noch leiser", während die Pianistin Yong-ah Yoon in jedem Ereignis einen der Ensembletöne auswählt und in wechselnder, bis zum Fortissimo reichender Lautstärke betont. Dem Eindruck der Statik in der Großform steht die mikrotonale Lebendigkeit im Detail gegenüber. So wie in regelmäßigen Abstand ins Wasser geworfene Steine stets unterschiedliche Wellen erzeugen, expandiert jeder Klang in anderer, charakteristischer Weise. Es gibt kein Zentrum, „das Gleichgewicht aller Momente schafft eine Art imaginäre Demokratie", erklärt Shim, um gleich wieder einzulenken, er wolle natürlich keine Vorstellung erzeugen, die über die Wahrnehmung hinausgehe. Es bleibt aber auf jeden Fall das Abenteuer meditativer Konzentration, die in der Museumshalle sicher eine größerer Weite erfahren wird als im traditionellen Konzertsaal.

(Volker Straebel, aus: Tagesspiegel vom Samstag, 28. Nov. 1998)

 

top