Interview mit Kunsu Shim
Wie kam es zu deiner Aktion „Herbst", die du ja im Rahmen von LandMarks 1 aufgeführt hast?
Die Idee kam beim Beobachten fallender Blätter. Ich hatte in Essen ein kleines Arbeitszimmer, vor dessen Fenster eine Kastanie stand. Im Herbst war das ein echtes Schauspiel. Bei Wind kamen die Blätter regelrecht herab geschossen, an einem windstillen Tag hingegen konnten die Blätter minutenlang treiben. Die Zeit der fallenden Blätter dauerte sehr lang, und ihr folgte eine sehr kurze Phase, in der die reifen Kastanienfrüchte herab fielen und mit den eindrucksvollen Geräuschen platzten. Was mich dennoch am meisten interessiert hatte, war der Augenblick der Begegnung von unterschiedlichen Umständen, z. B. Wind, Gewicht von Blättern, Höhe, Menge usw., die letztendlich mittels Klang erlebbar wurden. In der Aktion „Herbst" stehe ich lange unter einer großen und schweren Tonne, gefüllt mit einem Baum und anderen Gegenständen, aufgehängt an einem Kran, ca. 10 Meter hoch. Nach einer gewissen Zeit fällt die Tonne mit einigem Gedonner herab, wobei ich kurz davor, ja fast gleichzeitig den Ort verlasse, an dem die Tonne aufprallt. Das Bild von der aufgehängten Tonne mit Baum und einer Person darunter strahlt zuerst eine große Ruhe aus. Man bekommt den Eindruck, es sei eine Installation. Und in mitten des Einschmelzens in die Stille geschieht etwas, das sich von diesem Eindruck verabschiedet - blitzschnell. Es ist ein Bild von dem, das etwas trennt, was vorher anwesend war. Wenn man das überhaupt erlebt, heißt das, daß man ein neues Auge bekommt, das nun die Dinge anders sieht, d. h. die Dinge scheinen plötzlich viel individueller, für sich selbst stehend, lebendiger, sprechender als vorher. Vielleicht erreichen sie sogar den Punkt, dass man sie nicht mehr mit Worten zu beschreiben braucht. So eine Veränderung kann sehr langsam mit einer kontinuierlichen Dauer geschehen oder eben auch urplötzlich, z. B. mit einem Donnerschlag oder etwas ähnlichem.
Es ging aber auch darum, sich einem Ereignis der Natur, dem Fallen der Blätter anzunehmen?
Ich möchte die Natur nicht imitieren. Mein Interesse richtet sich auf die Situation, in der zwei Klangkörper aufeinander treffen. Was passiert dann? Nicht nur um die Klangqualität der Geräusche geht es, sondern vielmehr um die Umstände, unter denen ein Klang entsteht. Wenn ich im Alltag Geräusche höre, will ich das nicht imitieren. Wasser und Stein - was können diese Materialien, oder besser: Körper? Wie können sie sich begegnen? Ich möchte auch deshalb keine Imitation von Natur, weil die Nachahmung immer schlechter und belangloser als das Original ausfallen wird.
Jeder, der schreibt oder malt oder etwas gestaltet, möchte auch die Bestandteile und ihre Wahrnehmung verändern. Mit einem besonders poetischen Auge kann man zwar auch ohne die Hilfe einer künstlerischen Handlung das Wesentliche hinter den Dingen erkennen. Aber unsere heutigen Lebensbedingungen lassen das kaum zu. Stattdessen werden unsere Gefühle von der Außenwelt ständig in einem Zustand des Schwankens gehalten. Meine Performances verstehe ich als Hilfsmittel, die es mir und dem Zuhörer ermöglichen, einzelne, die Wahrnehmung öffnende Momente zuzulassen.
Die Performance „here - open air" beim letzten der LandMarks war beinah spektakulär.
Bei der ersten Besichtigung war ich von der Tetraeder-Halde sehr beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, diesem vollkommenen Ort nichts hinzufügen zu müssen, zu können... Ich war dann mehrmals dort, auch einmal bei Mitternacht, und jedesmal spürte ich eine magische Kraft. Ich habe mich gefragt, was den Charakter dieses Ortes ausmacht. Es gibt die dort bereits lebenden, eingelebten Bestandtteile und die Teile, die hingefügt und wieder entfernt werden können, ohne die lebenden Bestandteile zu zerstören oder zu verändern. Und da es sich um einen offenen Ort handelt, wollte ich seine Umrisse aufzeigen. Es kam dem Einrahmen eines Bildes gleich - in der Hoffnung, daß das Bild dadurch sichtbarer würde. Das war ja das Konzept von „LandMarks" überhaupt, die Dinge durch Markierung sichtbarer zu machen. Zunächst umrandeten zehn Fahrradfahrer die Halde - in gleichmäßigen Abständen voneinander entfernt. Es war Nacht, es gab einen klaren, wunderschönen Sternenhimmel, und die Fahrräder waren mit fluoreszierenden Rädern ausgestattet. Sie fuhren sehr langsam, und dem Publikum - inmitten der Haldenmulde - vermittelte dies einen ganz eigenen, nun intimeren Raum. Hinzu mischte sich ein anhaltender, leiser Klang dreier Musiker. Auch das war eine subtile räumliche Markierung, die sich von den dortigen Geräuschen abhebte. Im zweiten Abschnitt verlassen die Radfahrer die Halde, während gleichzeitig bengalische Feuer entfacht werden, die wiederum ein gänzlich anderes Raumgefühl vermitteln. Aus der Ferne nähert sich dann, zunächst unsichtbar, ein Heliumballon, als sei der Mond kurz zu Besuch gekommen.
Ist das nicht ein sehr abstraktes Konzept?
Warum? Ist das nicht ein sehr konkreter Umgang mit einem gegebenen, besonderen Raum? Viele meiner Partituren vermitteln oft den Eindruck, als ginge es um einen abstrakten Raum, aber es geht für mich immer um ein konkretes Bild, um konkrete Bilder. Die Klänge und ihre Form entstehen in mir meist nicht bloß aus einer Wohl-Lust reinen Klangexperimentes. Es sind Bilder, Menschen-Bilder, aus denen mich Klänge ansprechen und auf die sie letztendlich auch wieder zurückwirken. Sie sind vielfältig, aber ich merke, dass ich in meiner Musik mit der Suche nach einem Bild beschäftigt bin. In diesem Bild schlendert beispielsweise jemand allein durch eine Stadt. Von außen macht er einen desolaten Eindruck - einsam, labil, naiv, unbeholfen, unfähig, beinahe idiotisch. Doch eigentlich ist er ein wahrnehmendes, offenes Wesen, bei dem die Fähigkeit des Sehens mit eigenen Augen nie ganz verloren ging - eine Person mit Wärme und kindlicher Unschuld. In einem Film von Lars von Trier mit dem Titel "Idioten" ist eine Frau in der Gruppe. Sie war die einzig echte Idiotin - ihren Namen habe ich leider vergessen - und diese Frau z. B. kommt dem Bild, das ich suche, sehr nahe.
(Interview: Björn Gottstein)